Freitag, 15. Oktober 2010

Von Schwabenstreichen und anderen Medienmärchen

Wenn wir diese Tage an Stuttgart denken, dann ist es nicht die Hauptstadt der „Spätzlesesser“ und „Maultaschenschlotzer“, die Kehrwoche oder die sprichwörtliche Sparsamkeit unserer Freunde aus dem Ländle, was wir bildlich vor Augen haben. Stattdessen tauchen in unseren Köpfen Nachrichtenbilder oder Videoszenen auf, auf denen Jugendliche sich an Bäume ketten und Polizisten so hart durchgreifen wie wir es zuvor selten gesehen haben wenn es um Stadtpolitik oder Naturschutz ging.

Ein Thema, das Tausende auf die Straße bringt und in den Medien ein deutliches Bild zeichnet: die Gegner von Stuttgart 21, die Schüler, die von der Polizei mit Tränengas aus dem Schlosspark vertrieben wurden, und die vielen Umweltaktivisten aus zahlreichen verschiedenen Umweltschutzorganisationen, das sind die Guten. Um nicht zu sagen: die Gutmenschen unserer Zeit. Endlich engagieren sich mal wieder nicht nur ein paar Einzelne gegen „die da oben“. Und sogar unsere politikverdrossene Jugend wird mobil.

Die Berichterstattung ist so intensiv, dass man als Späteinsteiger eine ganze Reihe neuer Vokabeln lernen muss: S21, K21, Schwabenstreich, der „schwarze Donnerstag“, transparente Demokratie, Berufsdemonstranten usw.
Zweihundertzwanzig Kilometer entfernt, im Büro von Strasser & Strasser in München, betrachten wir diese mediale Aufmerksamkeit aus einem anderen Blickwinkel. Uns fällt auf, wie einseitig die Berichterstattung ist, die da gleichzeitig zur breiten Meinungsbildung in der Bevölkerung zu führen scheint. Und wir suchen nach der anderen Seite. Zur unserer Überraschung kann man diese zumindest auf aktive Suche hin genauso leicht finden. Richtig spannend wird es aber, wenn man sich mal in DEM sozialen Medium schlechthin umschaut: Facebook. Fast 120.000 Mitglieder haben dort im Social Network die Gruppen, die sich für Stuttgart 21 stark machen. Und das, während die Gegner nur ca. 80.000 Mitglieder zusammenbringen. Medienwissenschaftlich ebenso interessant: die Entwicklung der Twitter-Tweets zu „S21“. Eine Auswertung der Zahlen, dargestellt in einer Kurve, zeigt einen exponentiellen Anstieg der Kurve nach dem 30. September, dem „Tag der Eskalation“. Von vorher ca. 200 Tweets am Tag stieg die Anzahl um das Zwanzigfache auf 4000 täglich! Hier allerdings wurde nicht ausgewertet ob die Gegner oder die Befürworter eifriger twitterten. Während jedenfalls bei den Studentenprotesten 2009 Twitter noch kaum genutzt wurde, ist Twitter jetzt klar eine Plattform für die Auseinandersetzung der Gegner und Befürworter und zugleich Medium für die schnelle Verbreitung wichtiger Neuigkeiten selbst während laufenden Protestaktionen.

Für uns als Change Manager und Kommunikationsexperten geht es jedenfalls bei „Stuttgart 21“ nicht um die Frage des dafür oder dagegen. Für uns ist Stuttgart 21 auch mehr als ein Beispiel für den Diskurs um Politikverdrossenheit, Entscheidungen, die auf der Straße getroffen werden oder der Infragestellung unseres Demokratieverständnisses. Für uns ist Stuttgart 21 ein Beispiel für Kommunikationspolitik in den einschlägigen Medien und damit für gesteuerte Meinungsbildung. Einerseits. Andererseits: erleben wir auch, wie weit unsere Gesellschaft bereits in der Web 2.0-Welt angekommen ist! Ist das nun „echte Partizipation"?

LG
Diana

2 Kommentare:

  1. Jetzt schaltet sich auch schon die EU ein und sagt angeblich, dass das Projekt unverzichtbar ist. Ministerpräsident Stefan Mappus nannte die Auseinandersetzung um das Bauprojekt vor ein paar Tagen einen Richtungsentscheid für Deutschland. Trotz Vermittler und ähnliche Zeitgewinnaktionen frage ich mich immer noch. Wenn das Volk der oberste Souverän ist, warum machen die nicht einfach eine Abstimmung des Volkes und akzeptieren dann diese Entscheidung?

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  2. http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=5747586

    gibt einen interessanten zeitlichen Überblick über die Ereignisse.

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